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10.9.2019

 

Meine Familie ist nicht besonders außergewöhnlich. Trotzdem will ich von ihr erzählen, denn mein Zuhause ist wie eine Frühlingsrolle. 

 

Wie bei Frühlingsrollen denken andere an Asien, wenn sie uns sehen. Mich lassen Frühlingsrollen an Sonntage denken, an denen meine Mutter schon morgens frische Zutaten schneidet, sie in einer großen Schüssel zu einer Masse knetet und in Reispapier gerollt in der Pfanne brutzeln lässt. So lange bis sie außen goldbraun-knusprig und innen weich-warm sind. Die Gerüche und Geschmäcker sind wie eine Umarmung.

 

(Bild: Imago)

Mein Zuhause ist eine Frühlingsrolle.

Was darin passiert, ist manchmal wie durch eine dünne Schicht von außen abgetrennt. Außen, das ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Dass mich etwas von ihr trennt, bemerkte ich schon im Kindergarten. Meine Kindergärtnerinnen verstanden mich oft nicht, weil ich bestimmte deutsche Worte so ausspreche wie meine Eltern. “So-hut” heißt eigentlich “Joghurt” und “Mec-Se-Dec” bedeutet “Mercedes”.

Andere Kinder bekamen Geschenke an Feiertagen, die ich nicht einmal kannte. Bei uns wird eigentlich kein Weihnachten gefeiert. Weil ich als Kind dieselben Dinge machen wollte wie meine Freundinnen und Freunde, stellen meine Eltern bis heute jedes Jahr im Dezember eine Plastiktanne ins Wohnzimmer.

Die Autorin
Phan Thieu Hoa Nguyen lebt als Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf postkoloniale und postmigrantische Themen in Hildesheim. Dieser Text ist angelehnt an ihren ersten Kurzfilm “In meiner Frühlingsrolle” (Vimeo, 2016), in dem es um die immateriellen Grenzen zwischen ihr, ihrer Familie und der Außenwelt geht. Ein Jahr lang verheimlichte Hoa ihren Eltern den Film – aus Angst vor Missverständnissen und Enttäuschungen. Nachdem sie einen Filmpreis dafür bekam, zeigte sie ihn doch. Als ihr Vater hörte, wie sehr seine Biografie und die Perspektive der Familie gewertschätzt wurden, weinte er.

 Ich bin immer etwas dazwischen.

Ich bin Reispapier. Die dünne Schicht, die die Frühlingsrolle mit dem Außen verbindet. Zum Beispiel durch Sprache. Waren Freundinnen und Freunde zu Besuch, sprach eine Seite Deutsch, aber kein Vietnamesisch – die andere Seite Vietnamesisch und ein wenig Deutsch.

Ich fand es mühselig, zwischen beiden Seiten zu vermitteln und so kam es, dass ich öfter zu meinen Freunden ging, als andersherum. Wenn sie zum ersten Mal zu mir nach Hause kamen, hatte ich oft die Sorge, dass sie von meinem Zuhause überfordert sein könnten. Und dass mein Zuhause von ihnen überfordert sein könnte. Vielleicht war aber auch nur ich überfordert. 

Denn ich musste damit umgehen, dass mir ständig suggeriert wurde, meine Welt sei fremdartig und anders. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Eltern Schweinefüße, Hühnerherzen und Rinderzungen aßen. Ich konnte nicht verhindern, dass die Freundinnen und Freunde, denen ich ähneln wollte, sich ekelten und ich mich schämte. Heute weiß ich, dass wir gar nicht so anders sind und bin mit Menschen befreundet, die gutes Essen zu schätzen wissen.

Vietnamesinnen und Vietnamesen in Deutschland

Vor fast genau 40 Jahren, im Juli 1979, verpflichtete sich Westdeutschland, vietnamesische Geflüchtete aufzunehmen. Das war ein Ergebnis der Indochina-Flüchtlingskonferenz der Vereinten Nationen.

Dazu kamen die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die zwischen den Fünfziger- und den Achtzigerjahren nach Ostdeutschland emigrierten. (bpb) Heute leben, je nach Schätzung, etwa 100.000 bis 150.000 Menschen vietnamesischer Herkunft in Deutschland.

Vietnamesinnen und Vietnamesen gelten oft als gut integrierte “Model Minority”. Viele wehren sich aber gegen diese Zuschreibung, berichten von Rassismus und fehlender gesellschaftlicher Teilhabe. (Heinrich-Böll-Stiftung)

Meine Eltern sind in einer Frühlingsrolle.

Sie können außerhalb ihrer vietnamesichen Muttersprache nur einen Bruchteil ihrer Gedanken und Gefühle in Worte fassen. So werden sie in Deutschland nur zu einem Bruchteil verstanden. Ihr “gebrochenes” Deutsch wird als Zeichen von Rückständigkeit gesehen. Aber ich weiß, wie smart und widerstandsfähig sie sein mussten, um sich hier zu behaupten, auch gegen rassistische Vorurteile.

Ich spreche mit meinen Eltern Vietnamesisch und benutze die Worte, die ich von ihnen gelernt habe. Aber um meine neue Welt in Worte zu fassen, fehlen mir Vokabeln. Ich kann zum Beispiel sagen “bố ơi, con bực” oder “mẹ ơi, con buồn“. Aber ich weiß nicht, wie ich sage: “Das hat mich verletzt.”

Ihre Frühlingsrolle ist stark und schwach.
Stark, weil sie sich von ihrem sozialen Umfeld und ihrer ersten Heimat losgerissen haben. Ihre Biografien haben woanders begonnen, aber sie sind jetzt hier zuhause. Sie haben sich in einem neuen Land durchgeschlagen. Ich bewundere das.

 Aber manchmal reicht Starksein nicht. Als Kind bat mich mein Vater oft, formale Briefe für ihn zu schreiben. Wenn es Probleme mit den Finanzen gab oder etwas an seinen Anwalt gehen sollte. Ich war damit überfordert, meine Eltern zu verteidigen. Und wusste doch, dass ich es immer noch besser konnte als sie selbst.


Wie die Frühlingsrolle haben wir unseren Ursprung in Vietnam.

In Vietnam hat meine Mutter sieben Geschwister und mein Vater fünf, deren Kinder auch schon Kinder haben. Dort lebt außerdem mein großer Halbbruder mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Das heißt, wenn ich in Vietnam bin, bin ich auf einmal Teil einer Großfamilie und zweifache Tante.

 

Köchin in Hanoi (Bild: Unsplash)

Die Biografien meiner Familie gehören dort seit Generationen dazu. Doch wir sind nur noch zu Besuch. Wir fahren von der Hauptstadt Hà Nội, wo jetzt alle leben, in das Dorf Đô Lương, in dem meine Großeltern lebten und meine Mutter aufgewachsen ist. Wir besuchen und pflegen die Familiengräber, indem wir sie und den Boden drum herum fegen. 

Die Geister der Verstorbenen ehren wir durch Rituale: An jedem Grab wird mit einem Räucherstäbchen in der Hand eine Art stilles Gebet gesprochen und sich verbeugt. Auf dem Altar breiten wir Opfergaben in Form von Früchten, Blumen, Tee und Schnaps aus. Wenn die Räucherstäbchen abgeglüht sind, wird Papiergeld verbrannt, um die Verstorbenen mit Geld zu versorgen.

In jedem vietnamesischen Haushalt gibt es einen Altar für die Vorfahren. Die Ahnen werden verehrt und angebetet. Respekt vor den Älteren und der Zusammenhalt der Familie sind heilig. Ich kritisiere, dass damit feste Hierarchien und tradierte Familienbilder idealisiert werden. Aber ich liebe es, über diese Rituale mit meiner Familie verbunden zu sein.

Der Frühling rollt ein.

Als ich in die erste Klasse kam, hängten wir ein blaues Tuch hinter einem Stuhl auf und schossen davor Portraitfotos, denn wir bekamen endlich Pässe. Es wurde ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, durch das wir knapp zu denen gehörten, die eine Aufenthaltsbefugnis erhielten. Wenig später bekamen wir sogar, was meine Eltern und ihre Freundinnen und Freunde ein “U” nennen. Für Unbefristet.

Damit waren die langen acht Jahre vorbei, in denen sie alle zwei bis sechs Monate zur Ausländerbehörde gehen mussten. Ohne zu wissen, ob sie mit einer Duldung zurückkommen würden.

Ein Jahr später machten meine Eltern sich selbstständig. Das bedeutete Fortschritt, finanzielle Verbesserung und Freiheit. Erst eröffneten sie ein Restaurant, dann ein Kleidungsgeschäft und zuletzt versuchten sie es mehrmals mit Nagelstudios. Bis eines gut lief.

Ich bin in der Rolle des Frühlings.

Meine Eltern sind die ersten aus ihrer Familie, die nach Deutschland kamen. Mein kleiner Bruder und ich sind die ersten aus ihrer Familie, die in Deutschland aufwachsen und sich verwurzeln.

(Bento)