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Ist bald Schluss mit spielerischer Kultur? Und wer soll sich die traurigen, weil überaus politisch korrekten Ausstellungen, Aktionen und Inszenierungen ansehen? (Bild: Goran Basic / NZZ)Ist bald Schluss mit spielerischer Kultur? Und wer soll sich die traurigen, weil überaus politisch korrekten Ausstellungen, Aktionen und Inszenierungen ansehen? (Bild: Goran Basic / NZZ)
Interventionen und administrative Lösungen aus politischen Interessen ersetzen in Deutschlands Hochschul- und Kulturszene zunehmend den demokratischen Diskurs. Über eine Renaissance des Totalitären.
Klaus-Rüdiger Mai

In Deutschland liebt man es, sich auf die Lehren der Geschichte zu berufen, wenn man den «Anfängen» wehren will. Diejenigen, die sich auf der guten Seite wähnen, glauben daher, über dem Gesetz zu stehen und über die Freiheit anderer entscheiden zu dürfen. Symptomatisch dafür ist, die Demokratie einschränken zu wollen, um sie zu schützen.

Alle Mittel einzusetzen, scheint für die Überguten deshalb geboten zu sein, weil sie sich im Recht dünken. So hatte Louis Fürnberg bereits vor über einem halben Jahrhundert gedichtet: «Denn wer kämpft / Für das Recht, der hat immer recht / Gegen Lüge und Ausbeuterei. / Wer das Leben beleidigt, / Ist dumm oder schlecht. / Wer die Menschheit verteidigt, / Hat immer recht.» Haben diejenigen, die sich im Besitz der alleinigen Wahrheit und des Rechts dünken, bedacht, dass die Hybris des Totalitären Anfang ist?

Deutsche Medien erheben gegenwärtig die Jugend zu einer Art generationgewordenem Willen, der sich die Zukunft nicht von den Alten zerstören lassen möchte. Nun ist die Radikalisierung der Jugend zur Durchsetzung bestimmter politischer Interessen in der Geschichte nicht neu. Vom sogenannten Kinderkreuzzug des Mittelalters über Savonarolas Kinder-Garden in der Renaissance über die Langemarck-Generation im Ersten Weltkrieg bis in die Zeiten von Hitlerjugend oder dem kommunistischen Jugendverband FDJ in der DDR wurde Jugend in ihrer Begeisterungsfähigkeit missbraucht.

In den Archiven existieren noch die Bilder davon, als Studenten im Braunhemd in die Hörsäle einmarschierten und gegen jüdische Professoren lärmten, im Namen der Jugend die Liberalen zum Verstummen bringen wollten. Oder als nach 1949 die Blauhemden gegen die bürgerlichen Professoren Front machten. Genügend Bilder, Augenzeugenberichte und Aktenvermerke wurden aufbewahrt, genügend Reden mitgeschrieben, in denen dem Fortschritt gehuldigt und der freie Geist, die freie Lehre und Forschung, die Akzeptanz der Meinungsvielfalt mit dem Verweis bekämpft wurden, dass sie einer höheren Moral zu weichen hätten.

Und zur Geschichte der deutschen Universitäten gehören eben auch Heideggers Rektoratsrede oder die 2. Hochschulreform der Regierung der DDR, in der das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium eingeführt wurde und man die Bildungseinrichtungen gleichschaltete. Wer das nicht akzeptierte, wurde entweder wie Herbert Belter erschossen, zur Zwangsarbeit in Workuta verurteilt oder floh in den Westen.

Begriffe wie «Aktivist» oder «Intervention» lassen durchaus frösteln. Interventionen haben die deutschen Universitäten mehr als genug erlebt. Gerade in den letzten Jahren wurden in Deutschland Professoren von Studenten gemobbt und bedroht, weil sie in den Augen derer, die doch erst einmal lernen und sich die Urteilsfähigkeit erwerben sollten, angeblich rassistische, militaristische, menschenfeindliche, frauenfeindliche, heterodominante, homophobe, islamophobe, antifeministische Positionen vertreten.

In Frankfurt am Main versuchten Studenten eine Podiumsdiskussion an der Universität über das Kopftuch zu verhindern. Angegriffen wurde die Professorin, die diese Diskussion initiiert hat, die Forderung nach der Entlassung, nach einem Forschungsverbot für diese Professorin wurde erhoben.

Demonstrieren kann man immer: Eine Kundgebung vor der Goethe-Universität in Frankfurt anlässlich der Konferenz «Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung». (Bild: Boris Roessler / dpa / Keystone)Demonstrieren kann man immer: Eine Kundgebung vor der Goethe-Universität in Frankfurt anlässlich der Konferenz «Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung». (Bild: Boris Roessler / dpa / Keystone)

Politische Hetzjagd

In Dresden besetzten am 29. Mai 2019 Studenten der Hochschule für Bildende Künste die Bibliothek, weil die Hochschulleitung der Forderung nicht nachkommt, die Bibliotheksleiterin zu entlassen, die als Parteilose auf der Liste der AfD für die Kommunalwahl kandidiert hatte. Damit pfeifen die Studenten auf das Grundgesetz, das für jeden Bürger das aktive und passive Wahlrecht garantiert. Man verteidigt zu Recht das Grundrecht auf Asyl, das allerdings nur politisch Verfolgten zusteht, und engagiert sich selbst für eine politische Hetzjagd, für eine politische Verfolgung.

Die eigene Moral stellt man höher als das Grundgesetz, und im Namen der eigenen politischen Überzeugungen nimmt man sich das Recht heraus, die bürgerliche Existenz des anderen zu vernichten.

Die «Dresdner Neuesten Nachrichten» zitierten die Besetzer: «Wir können uns nicht vorstellen, eine Bibliothek weiterhin zu benutzen, die von einer Kandidatin von der AfD-Liste geführt wird.» Man kennt den Ton der Forderung, aus anderen Zeiten, mit anderen Begründungen. Wie lautete doch die Überschrift in einem Artikel der Pionierzeitung der DDR 1967: «Kein Vertrauen zum parteilosen Direktor.» Fürnbergs Lied besass übrigens den Refrain: «So, aus leninschem Geist, / Wächst von Stalin geschweisst, / Die Partei, die Partei, die Partei!»

Wie wollen diese Studenten, die unfähig zur demokratischen Auseinandersetzung sind, sonst würden sie nicht administrative Massnahmen fordern, künstlerisch tätig sein, wo doch die Grundlage der Kunst die Freiheit ist? Der Akt der Bibliotheksbesetzung ist weder demokratisch noch im Sinne der bürgerlichen Freiheit, sondern schlicht und ergreifend: Gesinnungsterror.

An den Aktionstagen unter dem Hashtag #wessenfreiheit rufen eine Reihe von Kunsthochschulen, darunter die Universität der Künste Berlin oder die Akademie der bildenden Künste Wien, zu nicht weniger als zur Abschaffung der Freiheit der Kunst auf, wenn sie unterstellen, dass mit der Forderung nach Freiheit in der Kunst die «Facetten institutioneller und gesellschaftlicher Macht im System Kunst» verdeckt werden, und behaupten, dass «. . . die sogenannte Freiheit der Kunst zum Freibrief für eine Einschränkung der Freiheit von Frauen in der Kunst» geworden sei.

Betreutes Denken?

Man muss nur einmal Lenin oder Stalin lesen, um das Muster zu erkennen, um die Sprache zu verstehen, welche die Sprache von Zensoren ist. Die Freiheit wird zur «sogenannten Freiheit» und die «sogenannte Freiheit» zum Vehikel der «Einschränkung der Freiheit von Frauen in der Kunst» wie einst zum Vehikel der Unterdrückung der Proletarier. Bereits das Hashtag #wessenfreiheit stellt die Bewegung als illiberal bloss, denn die Frage allein impliziert schon, dass die einen frei und die anderen unfrei sein sollen. Doch das Wesen der Freiheit besteht in ihrer Universalität, darin, dass sie niemandem gehört und für alle gilt.

Es ist bezeichnend, wenn die #wessenfreiheit-Aufrufenden am 15. Juni zum diesjährigen Aktionstag zusammenkommen, um zu diskutieren, wie «Interventionen, künstlerische Kommentare, Neu-Lektüren» aussehen könnten zu «historischen, kanonischen Beständen rassistischen und/oder sexistischen Inhalts im Museum und für das Theater». Es geht also darum, zu bestimmen, was noch wie im Theater gespielt und im Museum angeschaut werden darf und was nicht. Betreute Kunst? Betreutes Denken?

Die Studenten sägen am Ast, auf dem sie sitzen. Wer soll sich die traurigen, weil überaus politisch korrekten Ausstellungen, Aktionen und Inszenierungen der «neuen Ingenieure der Seele», wie Stalins Chefaufseher Andrei Schdanow das nannte, noch anschauen wollen?

Hört auf, den Bürgern vorzuschreiben, was sie sehen oder was sie verstehen sollen, malt, schreibt, spielt und lasst die Zuschauer entscheiden, wie sie es empfinden und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Jedes künstlerische Werk ist jedem Rezipienten zuzumuten, und es ist nur an künstlerischen und nicht an den ideologischen Kriterien eines sich totalisierenden Dekonstruktivismus zu messen.

Welche Absurdität diese neue Zensur hervorbringt, zeigt der Text einer Laura Hatting, die zum letzten «#wessenfreiheit»-Aktionstag in Leipzig «konzeptuelle Fragen zum besseren Verständnis der Arbeiten von Männern» zusammenstellte. Was da hochtrabend «konzeptuelle Fragen» genannt wurde, stellte in Wahrheit nur einen Leitfaden für neue Inquisitoren dar, wo «ein paar hilfreiche Fragen für Postpräsentationsgespräche mit Männern» aufgelistet werden, für den Fall, dass «der jeweilig präsentierende Mann während der Präsentation am eigentlichen Thema, nämlich seinem Mann-Sein» vorbeigeredet habe und es daher «dringend nötig» sei, «ihn eben auf die eigene männliche Position hinzuweisen».

Die Frage nach dem «Mann-sein» als eigentliches Thema kennt man mutatis mutandis aus dem Stalinismus, wo die eigentliche Frage die Frage des Klassenstandpunktes war und auf die dringend nötig hinzuweisen war und an der man nicht vorbeireden durfte.

Kunst ist Vielfalt

Wenn die Dresdner Kunststudenten zur Begründung für ihre Forderungen der AfD vorwerfen, gegen politische Kunst zu sein, da diese im Entwurf ihres Wahlprogramms tatsächlich fordert «Kultur darf kein Tummelplatz für soziokulturelle Klientelpolitik sein» und «Wir wenden uns gegen ein einseitig politisch orientiertes, erzieherisches Musik- und Sprechtheater, wie es derzeit auf sächsischen Bühnen praktiziert wird», dann haben sie mit der Forderung, dass die Bibliothekarin entweder ihren Job oder ihr kommunalpolitisches Engagement aufgibt, der AfD recht gegeben, dann demonstrieren sie Kunst als «soziokulturelle Klientelpolitik» – eine wahre Meisterleistung.

Es wäre ein Anfang, wenn man den notwendigen Meinungsstreit in der Demokratie als Streit der Meinungen akzeptieren würde und nicht auf repressive Mittel der Intervention und auf administrative Lösungen setzen würde. Es wäre ein Anfang, wenn man die bürgerlichen Freiheiten respektieren würde, anstatt sie auszuhebeln. Hilfreich wäre es zu verstehen, dass man aus der Geschichte keine Lehren ziehen kann, wohl aber schärft der Blick in die Geschichte die Fertigkeit, Mechanismen zu erkennen. So lässt sich immer wieder beobachten, wie in der Geschichte rationale Ordnungen und Vorstellungen ins Irrationale kippen. Deutschland ist besonders anfällig dafür, weil es einen fatalen Hang zur politischen Romantik hat. Dem ist zu wehren. Kunst soll die Vielfalt der Welt darstellen, nicht die Einfalt der Künstler.

Source: NZZ