Hinter einem eilends gezogenen Stacheldrahtzaun, der Neugierige vom Tatort aussperren und etwaige Tatspuren erhalten soll, durchstapften in der vergangenen, Woche Ingenieure und Geologen die hohe Schlammschicht, die “wie ein Leichentuch” (so “Paris Match”) das einst idyllische Riviera-Tal von Reyran überdeckt.

Mit der Sorgfalt von Detektiven, die den Tatort eines Gewaltverbrechens inspizieren, suchen die Sachverständigen nach Indizien, die es ihnen ermöglichen können, die Ursachen des größten technischen Desasters des Jahres aufzuklären: des Dammbruchs von Malpasset. Sie suchen zu ergründen, wie es geschehen konnte, daß der 66 Meter hohe Staudamm in der Spanne von Sekunden zusammenbrach und das Städtchen Fréjus mit mindestens 330 seiner Bürger unter einer gewaltigen Sturzflut begraben wurde.

Die amtliche Untersuchungskommission sieht sich einer schwierigen Aufgabe gegenüber. Sie hat nicht nur das Trümmer-Terrain des Stauwerks abzusuchen, sondern auch einen umfänglichen Katalog von Anschuldigungen und Vermutungen zu überprüfen, den Reporter und Fachleute nach dem Unglück zusammenstellten. Die Spekulation über die Ursachen der Katastrophe

begann, als einige Zeitungen in zumeist kritisierender Diktion darauf hinwiesen, daß der Staudamm von Malpasset bei seiner Inbetriebnahme im Jahre 1957 die dünnste Staumauer der Welt gewesen sei.

In der Tat maß die schlanke, bogenförmige Sperrmauer nur 6,9 Meter in der Talsohle und nicht mehr als anderthalb Meter auf der Dammkrone. Randvoll gefüllt, hätte die Sperre fast 50 Millionen Kubikmeter Wasser aufstauen können. “Für den Damm wurden jedoch nur 42 000 Kubikmeter Beton verarbeitet, was” – so schrieb die “Stuttgarter Zeitung” – “von Fachleuten als erstaunlich wenig bezeichnet wird.” Andere Blätter sprachen offen aus, der Damm sei vielleicht falsch konstruiert worden.

Erbauer des Damms ist freilich ein Experte, der unter den Wasserbau-Ingenieuren in aller Welt seit Jahrzehnten berühmt ist: der 68jährige Franzose André Coyne, einstmals Präsident des Internationalen Verbandes der Staumauer-Konstrukteure. Er hat Dutzende von Sperrwerken entworfen.

Aus der Tatsache, daß die Sperrmauer von Malpasset geradezu zerbrechlich grazil anmutete (“Paris Match”: “Die Leute im Tal hatten Angst”), läßt sich keineswegs der Schluß ziehen, Coyne habe das Beton -Projekt in riskanter Weise angelegt. Der Konstrukteur hatte im Gegenteil eine Bauweise gewählt, die von namhaften Wissenschaftlern als außerordentlich sicher eingestuft wird – das Prinzip der sogenannten Bogenstaumauer.

Diesen Typ hatten die Talsperrenbauer erst vor etwa dreißig Jahren entwickelt. Bis dahin bevorzugten sie die sogenannten Gewichtsstaumauern – massige Mauerwerke, deren Basis fast so stark war wie die gesamte Höhe der Anlage. Nach diesem Prinzip wurde beispielsweise der Hoover -Damm im US-Staat Nevada errichtet, der 221 Meter hoch und – auf der Talsohle 201 Meter stark ist.

Nach den Berechnungen der Wasserbau -Spezialisten beruht die Standsicherheit derartiger Staumauern allein auf ihrem ungeheuren Gewicht – im Gegensatz zu den dünnwandigen Bogenstaumauern, deren Stabilität von einer verblüffenden Eigenschaft herrührt: So wie eine Brücke die Belastung auf die Brückenpfeiler überträgt, leitet die Bogenmauer die auf sie einwirkenden Kräfte seitwärts auf die Berghänge

ab, in denen der Damm verankert ist. Die Mauer stemmt sich gewissermaßen in den Fels, wobei die Verankerungen (Widerlager) enorme Druckbelastungen zu tragen haben. So rechneten Wissenschaftler etwa aus, daß jedes der beiden Widerlager der zerborstenen Malpasset-Mauer einen Druck von 100 000 Tonnen aushalten mußte.

Wo immer fester Fels es zuläßt, stabile Widerlager einzubauen, bietet sich nach Auffassung von Talsperren-Spezialisten als eleganteste Lösung der Bau einer Bogenstaumauer an. In dem 1938 erschienenen deutschen Standardwerk über “Talsperren, Staudämme und Staumauern” preist Professor Friedrich Tölke den Mauertyp: “Die Bogenmauer ist dort, wo die Natur ihre Anwendung gestattet, allen übrigen Bauformen in einem Maße an Sicherheit überlegen, das sehr schwer in Zahlen ausgedrückt werden kann. Fast möchte man behaupten, daß Bogenmauern überhaupt nicht zum Einsturz gebracht werden können.”

Nach Ansicht von Professor Tölke dürfte es darüber hinaus “keinem Zweifel unterliegen, daß die größte Sicherheit der

einheitlichen Mauerwirkung darin besteht, die Mauer so elastisch, das heißt so dünn zu machen, wie es … überhaupt möglich ist”.

In welchem Maße die Talsperrenbauer von den Vorzügen dieser Bauweise überzeugt sind, läßt sich daraus ersehen, daß seit 1939 fast vierzig große Bogenstaumauern in verschiedenen Ländern errichtet worden sind. Der Damm von Malpasset ist der erste, der die Verheißungen von der unüberbietbaren Sicherheit nicht erfüllte.

Hingegen sind schon mächtige Gewichtsstaumauern eingestürzt – etwa der St. -Francis-Damm in den USA (400 Tote), oder die von Pfeilern getragene Gleno-Staumauer in den italienischen Alpen, die 1923 zusammenbrach (500 Tote). Beim Kollaps der Eder- und der Möhne-Talsperre im Jahre 1943 wurden Tausende getötet – nicht als Folge eines Damm-Versagers freilich,

sondern einer sorgfältig ausgeklügelten Lufttorpedo-Attacke der Royal Air Force.

Demgegenüber haben einige der dünnen Bogenmauern beachtlichen Strapazen widerstanden. Anhänger des Bogenbau-Prinzips verweisen etwa auf die Corfino-Staumauer, die das Erdbeben von Villacollemandina unversehrt überdauerte, obwohl ringsum alles in Trümmer ging.

Mithin wird die Kommission zur Untersuchung der Malpasset-Katastrophe schwerlich zu der Auffassung kommen können, die Staumauer sei eine Fehlkonstruktion gewesen. Offensichtlich wurden die Bedenken gegen den Konstruktionstyp genauso unkritisch verbreitet wie die übrigen Unglücks -Hypothesen:

– Straßenbau-Sprengungen in der Nähe der Talsperre hätten das Fundament erschüttert. (Dagegen spricht, daß nach Angaben des Departements-Präfekten Jean Roulies einige Monate zuvor eigens Spreng-Tests ausgeführt worden waren, deren Ergebnisse zu keinerlei Befürchtungen Anlaß gaben.)

– Ein Erdbeben habe gefährliche Bodenbewegungen ausgelöst. (Dagegen spricht, daß der mit der Untersuchung des Unglücks beauftragte französische Landwirtschaftsminister Henri Rochereau unmittelbar nach dem Unglück alle Seismographen in der näheren Umgebung kontrollieren ließ, bisher aber kein Beben melden konnte.)

– Die Sicherheitsschleusen der Staumauer seien nicht rechtzeitig geöffnet worden (was zutreffen mag, aber belanglos gewesen sein dürfte, da die Schleusen nur 60 Kubikmeter Wasser pro Sekunde durchsetzten – viel zuwenig, um ein rasches Absinken des Wasserstandes zu erreichen).

Und da sich bislang auch die Gerüchte nicht bewahrheiteten, daß 48 Stunden vor dem Desaster winzige Risse im Damm entdeckt worden seien – Dammwärter André Ferraud gab zu Protokoll, er habe nichts dergleichen gesehen -, verbleiben nur noch zwei überprüfenswerte Hypothesen. Mit der ersten beschäftigt sich bereits die Staatsanwaltschaft. Sie untersucht, ob während der Bauarbeiten, als einige beteiligte Firmen bankrott gingen, gepfuscht worden ist. Zumindest war dieser Verdacht vor einigen Jahren im Generalrat des Departements aufgetaucht, was schon damals Anlaß zu heftigen Debatten gab.

Die andere These vertreten sowohl die Ingenieure der Straßenbauverwaltung als auch der Bauunternehmer Ballot: Das Felsmassiv, in dem das linke Widerlager der Staumauer eingebettet war, habe aus bisher ungeklärten Gründen nachgegeben. Ballot stützt seine Annahme auf Untersuchungen, die er in der vergangenen Woche selbst zwischen den Stauwerktrümmern vornahm. Dabei entdeckte er, wie er später berichtete, daß sich das einbetonierte Widerlager samt felsiger Unterlage gelockert habe.

Damit rückte schließlich die Frage in den Vordergrund, ob das Desaster geologische Ursachen gehabt haben könnte: War der Fels nicht stabil genug, um den am Unglückstag erstmalig voll ausgelasteten Staudamm zu stützen?

Tatsächlich hatten die Planer des Stauwerks schon bei den Vorarbeiten festgestellt, der für die Aufnahme des linken Widerlagers bestimmte Felsstock bedürfe einer zusätzlichen Beton-Stütze. Angesichts der Vermutungen, daß der Fels nachgegeben habe, wird die amtliche Untersuchungskommission nun auch die blamable Möglichkeit untersuchen müssen, ob die gesamten Konstruktionsberechnungen auf falschen geologischen Daten fußten.

Staumauer von Malpasset: Falsches geologisches Gutachten?