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INTERVIEW

Historiker Jürgen Kocka über die SPD: «Das Leben abseits der Macht stellt für viele Sozialdemokraten noch immer eine attraktive Existenzform dar»

Die SPD wäre besser beraten gewesen, Olaf Scholz zum Parteichef zu machen anstatt zwei Aussenseiter, meint der Historiker Jürgen Kocka. Erfolgreich gewesen sei die Partei nur, wenn sie Kritik an den herrschenden Verhältnissen, Kompromissbereitschaft und Machtwillen miteinander verbunden habe. Nun bestehe die Gefahr, dass es sich die Sozialdemokraten im Winkel bequem machten.

Hansjörg Müller, Berlin 
Die sozial Schwächeren zu vertreten, gehört zu den Kernaufgaben der Sozialdemokratie (im Bild Wohnblöcke in Berlin).

Die sozial Schwächeren zu vertreten, gehört zu den Kernaufgaben der Sozialdemokratie (im Bild Wohnblöcke in Berlin). Andreas Rentz, Getty Images Europe

Herr Kocka, Sie haben einmal geschrieben, die SPD kalkuliere nicht immer rational. Ist die Wahl der beiden neuen Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ein Beispiel dafür?

Sie ist das Resultat eines demokratischen Auswahlprozesses, in den in der Tat nicht nur rationale Erwägungen, sondern auch emotionale Bedürfnisse, Empörungen und Hoffnungen eingegangen sind. Man entschied sich für diesen Prozess in einer Krise, die aus einem langjährigen Abstieg resultierte und eintrat, nachdem Andrea Nahles auf ziemlich unfaire Weise als Parteichefin hinausgeworfen worden war. In dieser Situation suchte die Partei nach einem neuen Weg. Innerhalb der SPD gab es viel Zustimmung dafür, doch die meisten Beobachter blieben skeptisch.

Teilen Sie diese Skepsis? Nicht wenige Kommentatoren betrachten das Ergebnis der Wahl als Katastrophe für die Partei.
Von einer Katastrophe würde ich nicht reden. Aber ich denke, es wäre klüger gewesen, Olaf Scholz und seine Partnerin zu wählen statt zwei unerfahrene Aussenseiter.

Nun steht die SPD vor der Frage, ob sie die grosse Koalition fortsetzen soll oder nicht. Würden Sie der Partei einen Rat erteilen wollen?

Ich verstehe die Leute, die raus wollen und sagen, wir müssten springen, auch wenn wir nicht wissen, wohin. Denn die SPD hat in den letzten Jahren als Juniorpartner der Union erstaunlich viel durchgesetzt, aber es hat ihr in Wahlen und Umfragen nichts geholfen. Aber mit einem Bruch der Koalition wäre das Risiko einer weiteren Selbstmarginalisierung verbunden. Man sollte auf jeden Fall bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode in der Koalition bleiben. Danach ist die Zeit, alles neu zu überdenken.

Ist die Wahl von Esken und Walter-Borjans auch Ausdruck eines generellen Misstrauens gegenüber professionellen Karrierepolitikern?

Das ist sie ganz sicher. Sozialdemokraten können gegenüber gewählten Führern zwar solidarisch sein, aber sie neigen auch zur instinktiven Kritik am Establishment. Eine Tendenz hin zum Populismus ist ja auch anderswo zu beobachten, vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums, aber nicht nur dort. Dies manifestiert sich in einem tiefen Misstrauen gegenüber Eliten und den etablierten Prozeduren der repräsentativen Demokratie. Kritik ist zentral für Sozialdemokraten, und das gilt auch parteiintern, so dass sie ihre wenigen guten Leute abhalftern, sobald diese einmal keinen Erfolg mehr haben. Sigmar Gabriel ist dafür ein Beispiel, aber auch Martin Schulz und Andrea Nahles.

«Zur Macht gehören in der Demokratie auch immer Kompromisse, und ohne diese einzugehen, kann man sich in der Tat reiner und prinzipienfester fühlen: Haltung statt Handeln.»

Sind Esken und Walter-Borjans Populisten?

Nein, das nicht. Aber die Ersetzung etablierter Personen und Mechanismen durch basisdemokratische Verfahren passt in das sich ausdehnende Unbehagen an den Prinzipien der repräsentativen Demokratie. Bisher wählte der Parteitag die Chefs, jetzt haben wir stattdessen Mitgliederbefragungen – und einen Zirkus von Regionalkonferenzen.

Die SPD stellte bisher drei Bundeskanzler. Alle drei waren Politiker, die in der Mitte der Gesellschaft ankamen, und sie waren allesamt Charismatiker . . .

. . . ja, und Leute, die auch wirklich an die Macht wollten. Aber die SPD ist traditionell durch die Erfahrung geprägt, auch ohne Macht existieren zu können. Gross geworden ist sie vor 1914, als sie zeitweise verfolgt und im Reichstag marginalisiert wurde. Vielleicht ist dieses Argument zu historisch, aber mir scheint, dass das Leben abseits der Macht für viele Sozialdemokraten noch immer eine attraktive politische Existenzform darstellt.

Vielleicht fühlt es sich für manche auch besser an: Wer keine Verantwortung übernimmt, kann sich im Gefühl ideologischer Reinheit suhlen.

Zur Macht gehören in der Demokratie auch immer Kompromisse, und ohne diese einzugehen, kann man sich in der Tat reiner und prinzipienfester fühlen: Haltung statt Handeln. Das ist in der CDU ganz anders: Dieses Flirten mit der Machtlosigkeit sehe ich dort nicht. Man kann das Interesse am Machterhalt natürlich auch übertreiben, aber insgesamt tut es einer Partei doch gut. «Opposition ist Mist», hat Franz Müntefering gesagt. Jetzt hört man eher, regieren sei Mist.

Sie sprachen eine gewisse Härte in innerparteilichen Auseinandersetzungen an. Auf den Regionalkonferenzen schienen mir die Kandidaten eher zu nett miteinander umzugehen. So gelang es nicht, rhetorisch mässig begabte Politiker wie Esken und Walter-Borjans zu stellen.

Diese harte Kritik, von der ich sprach, richtet sich eher gegen die Etablierten, weniger gegen diejenigen, die erst einmal etwas werden wollen. Die Rekrutierung eines qualifizierten, ehrgeizigen und leistungsfähigen Führungspersonals fällt allen Parteien derzeit schwer. Das politische Geschäft ist schwieriger geworden, Politikern wird sehr viel zugemutet, sie erfahren mehr Häme als Anerkennung. Dies ist ein allgemeines Problem. Aber die personellen Probleme der SPD scheinen mir besonders ausgeprägt. Leute wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder sieht man derzeit nicht.

Allein steht die SPD mit ihren Problemen ja nicht da: Auch die Union ist bei weitem nicht mehr so stark wie noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. Passt das Konzept einer Volkspartei, die alle Milieus ansprechen will, vielleicht einfach nicht mehr in unsere Zeit?

Die Volksparteien leiden unter einem Strukturwandel der Öffentlichkeit. Anders als Buchdruck und Printmedien schwächen die neuen Kommunikationsformen, die durch die Digitalisierung aufgekommen sind, die repräsentative Demokratie. Dadurch entstehen Echokammern, und einzelne Gruppen schotten sich zunehmend voneinander ab, Empörung wird häufiger und Verständigung schwieriger. Zudem haben Politiker nun einen direkten Zugriff auf die Basis, denken Sie nur an Donald Trumps Tweets. Diese neuen Formen der Kommunikation begünstigen demagogische Führer, und sie lassen Parlamente alt aussehen: Kompromisse zu schliessen, wird zunehmend unpopulärer.

«Die SPD war immer erfolgreich, wenn es ihr gelang, Protest weiterzutragen, gleichzeitig aber auch das Bürgertum anzusprechen. Eine Partei, die nur Mässigung predigte, verkäme zu einer Agentur des Status quo.»

Die SPD war lange Zeit der parteigewordene Kompromiss und die institutionalisierte Mässigung. Vielleicht leidet sie deswegen besonders stark.

Sie wird durch diesen Wandel in der Tat besonders hart getroffen, denn sie war eine klassische Partei der nüchternen Vermittlung von Spannungen und Gegensätzen. Aber darauf kann man sie nicht reduzieren. Die SPD war immer dann besonders erfolgreich, wenn es ihr gelang, einerseits Protest weiterzutragen, entschieden auf demokratische Reformen zu dringen und die sozialen Interessen der Schwächeren zu vertreten, gleichzeitig aber auch progressive Teile des Bürgertums und der Mittelschicht anzusprechen. Eine Partei, die nur Mässigung predigte und Kompromisse schmiedete, verkäme zu einer Agentur des Status quo. Auch die jetzige Gegenwart ist nicht so, dass sie die ständige Suche nach Alternativen und den Kampf für bessere Lösungen überflüssig machte, im Gegenteil. Die Sozialdemokratie gäbe sich auf, wenn sie diese Aufgabe aus den Augen verlöre. Aber ihre besondere Stärke war es, radikale Interessenvertretung und gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu verbinden, dadurch hat sie erheblich zum Fortschritt beigetragen. Dies gelingt ihr derzeit nicht.

Dass die SPD weite Teile der Mittelschicht verlor, dürfte nicht zuletzt mit dem Aufkommen der Grünen zu erklären sein: Akademiker, die bisher SPD wählten, haben nun ihre eigene Partei.

Das mag so sein. Wenn die SPD heute versucht, über ihren sozialpolitischen und arbeiterfreundlichen Kern hinaus Wirkung zu entfalten, hat sie mit den Grünen einen gewichtigen Konkurrenten. Zudem hat sie seit 1990 auf der linken Seite einen weiteren Mitbewerber. Die SPD sollte aber nicht versuchen, linker als die Linkspartei oder grüner als die Grünen zu werden. Sie sollte sich bemühen, zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen der jetzigen und der zukünftigen Generationen zu vermitteln, etwa zwischen Umwelt- und Klimaschutz einerseits und sozialer Sicherheit und Wirtschaftswachstum andererseits. Und sie sollte nicht nur fördern, sondern auch fordern.

Letzteres war das Ziel der Hartz-Reformen, die von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder durchgeführt wurden. Für die deutsche Wirtschaft erwiesen sich diese Reformen als Erfolg, für die SPD weniger.

Dabei waren sie eine der grossen Leistungen der Sozialdemokratie! Man machte dabei einige unglückliche Fehler, so hätte man beispielsweise schon damals einen Mindestlohn durchsetzen können, um den Geruch des Neoliberalen abzustreifen. Dennoch waren die Hartz-Reformen richtig und notwendig. Die Bundesrepublik galt in den 1990er Jahren als kranker Mann Europas, der Sozialstaat musste reformiert werden. Die SPD hat es aber nicht verstanden, sich diesen Erfolg als Feder an ihren Hut zu stecken, sondern sie hat damit gehadert und dadurch ihren eigenen Niedergang beschleunigt.

Über die Grünen sprachen wir bereits, doch auch die CDU setzte der SPD zu: Unter Angela Merkel bewegten sich die Christlichdemokraten immer weiter nach links.

Anders als in den 1950er oder 1960er Jahren sind sozialdemokratische Zielsetzungen heute weit verbreitet, auch ausserhalb der SPD. Unter Merkel hat sich dies noch einmal akzentuiert. Die CDU hat sich in einem Territorium ausgebreitet, das früher eindeutiger der SPD gehörte. Wir haben es mit einem partiellen Sieg sozialdemokratischer Ideen zu tun, aber die SPD hat dadurch ein Alleinstellungsmerkmal verloren.

«In der Flüchtlingspolitik ist es der SPD nicht gelungen, ihre universalistische, an den Menschenrechten ausgerichtete Politik mit dem in Einklang zu bringen, was sozial verträglich ist.»

Hat sich die Sozialdemokratie damit selbst überflüssig gemacht?

Keineswegs. Es bleibt noch genug zu tun. Wir beobachten weltweit einen phänomenalen Siegeszug des Kapitalismus mit vielen zu begrüssenden, aber auch sehr unangenehmen Folgen: Einerseits sind da ein grosses Wachstum und die Fähigkeit, das Überleben einer rasant gewachsenen Weltbevölkerung zu ermöglichen, andererseits eine wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich, die mit demokratischen Prinzipien kaum vereinbar erscheint. Den globalen Kapitalismus auf eine Weise zu regulieren, dass er seine Dynamik nicht verliert, aber doch menschenfreundlicher wird, das können am ehesten Sozialdemokraten, die traditionell immer eine behutsame und wirkungsvolle Kapitalismuskritik geübt haben. Auch was Klima- und Migrationspolitik angeht, die beiden grossen Themen unserer Zeit, hoffe ich am ehesten auf die sozialdemokratischen Tugenden der zukunftsorientierten Kritik, des rationalen Abwägens und des Schliessens von Kompromissen.

Hätte die SPD in der Flüchtlingskrise eine andere Politik betreiben müssen? Gerade unter Arbeitern dürfte sie seit 2015 nicht wenige Wähler an die AfD verloren haben.

In der Flüchtlings- und Migrationspolitik ist es der SPD in der Tat nicht gelungen, ihre universalistische, kosmopolitische und an den Menschenrechten ausgerichtete Politik mit dem in Einklang zu bringen, was sozial verträglich ist. 2015 trug Sigmar Gabriel im Bundestag einen Sticker, auf dem «Refugees welcome» stand. In Dänemark haben wir gesehen, wie Sozialdemokraten in dieser Frage reüssieren können, wenn sie ein wenig defensiver und nationaler argumentieren.

Würde die SPD eine Migrationspolitik betreiben, wie es die dänischen Sozialdemokraten tun, müsste sie die Union rechts überholen.

Das sehe ich nicht so. Auch die Union vertritt ja längst nicht mehr die Merkelsche Position von 2015. Und würde sich die SPD plötzlich rechts von der Union positionieren, ginge sie daran kaputt. Aber sie sollte eine Migrationspolitik mit mehr Augenmass betreiben. Stattdessen macht sie einen grossen Bogen um das Thema. Man diskutiert nicht offen darüber, vielleicht weil es innerhalb der Partei sehr unterschiedliche Meinungen dazu gibt. Als Andrea Nahles sagte, wir könnten nicht alle aufnehmen, die kommen wollten, sprach sie lediglich eine Binsenwahrheit aus. Dennoch musste sie sich von gestandenen Parteimitgliedern vorhalten lassen, damit AfD-Positionen zu vertreten. Das ist genau die falsche Art, mit dem Thema umzugehen, und die AfD profitiert davon.

Sozialhistoriker im Unruhestand

Nur wenige deutsche Historiker haben ihr Fach geprägt wie Jürgen Kocka: In den 1970er Jahren begründete er zusammen mit Hans-Ulrich Wehler die sogenannte Bielefelder Schule, deren Methoden einen Einbezug sozialwissenschaftlicher Theorien in die Geschichtswissenschaft bedeuteten. Stände, Schichten, Klassen und der Alltag wurden zum Thema; Kocka beschäftigte sich in seinen Büchern unter anderem mit der Kultur der Arbeiter und des Bürgertums. 1988 zog er von Bielefeld nach Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung 2009 eine Professur für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität innehatte. Bis heute wirkt der 78-Jährige am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, dessen Präsident er bis 2007 war. Das Forschungszentrum «Rework» der Berliner Humboldt-Universität, wo Kocka zum Interview empfängt, verbindet zwei Lebensthemen des Historikers: die Geschichte der Arbeit und den internationalen Vergleich. Ein gutes Dutzend Geisteswissenschafter aus aller Welt beschäftigt sich hier jedes Jahr mit dem Thema «Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive».

NZZ

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